Dranginkontinenz


Der Begriff Dranginkontinenz beschreibt einen plötzlich eintretenden starken Harndrang mit folgendem unwillkürlichen Urinverlust. Die Dranginkontinenz ist ein unbedingt abklärungsbedürftiges Krankheitsbild. Eine einmal erlittene schwere Strukturveränderung der Harnblase als Spätfolge einer Blasenüberaktivität (mit folglicher Dranginkontinenz) ist nicht mehr umkehrbar (reversibel), kann aber in den meisten Fällen durch frühes Erkennen und Behandeln verhindert werden.

Was ist eine Dranginkontinenz und wie äußert sie sich?

Die Dranginkontinenz bzw. Drangharninkontinenz ist ein typisches Beschwerdebild einer Harnblasenfunktionsstörung. Sie wird auch mit dem Begriff „Überaktive Blase“ beschrieben. Ein plötzlicher, ohne Vorzeichen eintretender Harndrang kann dabei so stark sein, dass er zum unwillkürlichen Urinverlust führt – zur Dranginkontinenz.

Ganz typische Schilderungen von Dranginkontinenz-Patienten sind zum Beispiel: „Wenn ich vor der Haustür stehe, bereits einen Harndrang habe und den Schlüssel noch suchen muss, wird der Drang immer stärker und dann passiert’s; ich kann den Urin nicht mehr halten – es geht in die Hose – bevor die Tür auf ist“

Meist müssen diese Menschen viel häufiger als normal (mehr als 8 mal in 24 h) Wasser lassen gehen. Außerdem ist ihre Nachtruhe erheblich gestört, da sie auch nachts mehrfach aufstehen müssen, um zur Toilette zu gehen.

Frau mit Dranginkontinenz
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Ursachen der Dranginkontinenz

Die Ursachen für diese die Lebensqualität sehr einschränkende Form der Harninkontinenz liegen entweder direkt am Ort des Geschehens – der Harnblase im kleinen Becken – oder/und im zentralen Nervensystem.

In der Harnblase können eine Funktionsstörung der inneren Schleimhautauskleidung (Urothel) der Harnblase und der Harnblasenwandmuskulatur die „Überaktivität“ auslösen. Dabei strömen vermehrt Harndrang-Reize (anregende Nervenimpulse) aus der Blase über das Rückenmark in das Gehirn ein. Das Gleichgewicht zwischen den die Blase anregenden und hemmenden Reizen ist dann gestört, der vermehrte Harndrang ist folglich das Ergebnis. Ein Beispiel für eine derartige vorübergehende Funktionsstörung des Urothels ist die bakterielle Blasenentzündung mit ihren sehr vielen Menschen wohlbekannten Beschwerden.

Die Störung kann aber auch im Rückenmark oder auch im Gehirn selbst bestehen (und durch andere Erkrankungen wie Schlaganfall, Verletzungen u.v.a.m. bedingt sein). In diesem Falle ist in der Regel die Hemmung der die Blase anregenden Impulse zu schwach und die Dranginkontinenz tritt somit auf, obwohl die Blase selbst noch gesund ist. Bestehen diese „zentral“ ausgelösten Beschwerden über Monate oder Jahre hinweg, wird in der Folge die Blase mitunter so schwer geschädigt, dass rückwirkend letztendlich auch die Nieren erkranken und eine schwere Nierenschwäche entstehen kann.

Arztsuche

Diagnostik und Abklärung der Dranginkontinenz

Eine Dranginkontinenz sollte unbedingt abgeklärt werden. Sie ist manchmal recht schwer von der (eher dranglosen) Belastungsinkontinenz (alt: Stressinkontinenz) zu unterscheiden. Häufig existieren zudem auch beide Krankheitsbilder gemeinsam. Die Behandlungsmethoden sind sehr vielfältig, abhängig von der Inkontinenzform aber völlig verschieden.

Deshalb ist eine gute und exakte Analyse der Krankheitszeichen und die Ursachenfindung (Diagnostik) besonders wichtig. Oft wünschen Dranginkontinenz-Patienten verständlicherweise eine schnelle Beseitigung des sehr belastenden „Problems“. Insbesondere in der Diagnostik ist aber Geduld von Arzt und Patient gefragt und sehr bedeutsam für den Behandlungserfolg.

Wichtige Eckpunkte der Dranginkontinenz-Diagnostik sind:

  • Erfassung der Krankengeschichte (Anamnese)
  • Führen eines Tagebuches über Trinkgewohnheiten und Wasserlassen (Miktionstagebuch)
  • Körperliche, zielgerichtete Untersuchung
  • Urinuntersuchung (und evtl. Blutuntersuchung)
  • Bildgebende Diagnostik
  • Invasive Diagnostik im Rahmen kleinerer Eingriffe

Erfassung der Krankengeschichte (Anamnese)

Der Arzt fragt im Rahmen eines Anamnesegesprächs unter anderem nach:

  • Beginn, Dauer und Schweregrad der Krankheitszeichen (Symptome)
  • Häufigkeit des Wasserlassens (Miktionshäufigkeit)
  • plötzlichem Harndrang
  • Urin- und/oder Stuhlverlust
  • Trink- und Urinmenge
  • Blut im Urin
  • Urogenitalinfektionen
  • Anzahl der Geburten und geburtshilflichen Maßnahmen
  • Beckenbodensenkung oder Gebärmuttervorfall
  • gynäkologischen Erkrankungen
  • Operationen oder Strahlenbehandlungen im Bauch- oder Beckenbereich
  • Wirbelsäulenerkrankungen
  • neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose (MS) und Schlaganfall
  • Verletzungen
  • entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa und Morbus Crohn
  • Größe und Gewicht
  • Medikamenteneinnahme
  • Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes

Führen eines Tagebuches über Trinkgewohnheiten und Wasserlassen (Miktionstagebuch)

Die Patientin/der Patient notiert die Trinkmenge, Urinmenge, Drangzeichen, Schmerzen, Gewicht der (nassen) Einlagen in Gramm usw. nach Uhrzeit über mehrere Tage in einem speziell dafür angefertigten Tagebuch, das er von seinem behandelnden Arzt bekommt. Diese Erfassung ist oft bereits äußerst aufschlussreich. Sie stellt eine sehr wichtige (und schmerzlose) Untersuchungsmethode dar, deren Bedeutung leider oft verkannt und vernachlässigt wird.

Körperliche, zielgerichtete Untersuchung

Die körperliche Untersuchung wird von einem Frauenarzt oder Urologen durchgeführt und beinhaltet insbesondere die Untersuchung des äußeren Genitale sowie bei Frauen die Untersuchung der Scheide. Zudem erfolgt eine kurze neurologische Untersuchung.

Bildgebende Diagnostik

Im Rahmen der bildgebenden Diagnostik erfolgt eine Ultraschalluntersuchung (Sonographie) der Blase (mit Restharnbestimmung) und der Nieren sowie des Dammes. Bei Frauen erfolgt eine Sonographie der Scheide (intravaginale Sonographie), während bei Männern evtl. ein Ultraschall über den Enddarm (transrektaler Ultraschall) zum Einsatz kommt. Zudem kann eine Röntgenuntersuchung mit Kontrastmittel, z.B. von der Blase (Zystogramm), erfolgen.

Sonogerät für Ultraschalluntersuchung
Sonogerät für Ultraschalluntersuchung © Tobilander / Fotolia

Invasive Diagnostik

Hierzu gehören etwa eine Harnröhren- und Blasenspiegelung sowie die Blasendruckmessung (Zystometrie und Urodynamik).

Therapie der Dranginkontinenz

Die Therapie der Dranginkontinenz erfolgt entsprechend der veröffentlichten Empfehlungen (Leitlinien), die individuell den Gegebenheiten und Patientenwünschen angepasst werden. Es wird dabei in der Regel eine so genannte Stufentherapie durchgeführt. Das heisst, dass immer dann, wenn eine Therapiestufe keine ausreichende Wirkung zeigt, zur nächsten Stufe übergegangen wird. Im Folgenden werden die wichtigsten modernen Behandlungsformen kurz beschrieben.

Nicht-chirurgische (konservative) Therapie der Dranginkontinenz

Die Stufenbehandlung beginnt generell mit nicht-chirurgischen (konservativen) Behandlungsmaßnahmen wie einem Verhaltenstraining nach Auswertung des Miktionstagebuches (Miktions- und Toilettentraining). Sehr unterstützend wirkt hier oft die begleitende Physiotherapie mit Beckenbodenübungen und Biofeedbacktraining sowie die zusätzlich durchführbare Elektrostimulationsbehandlung.

Medikamentöse Therapie der Dranginkontinenz

Die zweite Stufe umfasst die medikamentöse Therapie. Hierbei stehen lokale Medikamente oder Tabletten zur Auswahl. Frauen mit altersbedingtem Östrogenmangel können beispielsweise von lokalen Medikamenten wie einer örtlichen Östrogen-Salbe oder Scheidenzäpfchen sehr profitieren. Weiterhin können Hormone auch als Tablette verabreicht werden.

Entsprechende vielfältige am Markt befindliche (geprüfte) Medikamente (Anticholinergika) zur Dämpfung der Blasenüberaktivität werden ebenfalls in Tablettenform oder auch als Pflaster verabreicht. Hier ist eine dauerhafte Einnahme erforderlich. Beim Pausieren oder Absetzen der Medikation kehren die Symptome zurück.

Diese Präparate wurden ständig weiterentwickelt und verbessert. Medikamente der neueren Generation, die ihre Wirkung nun überwiegend direkt an der Blase entfalten – ohne das zentrale Nervensystem (Gehirn) zusätzlich zu beeinflussen – haben deutlich weniger Nebenwirkungen.

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Botulinumtoxin (A) bei Dranginkontinenz

Wenn nun Patienten trotzdem wegen unerwünschter Nebeneffekte diese Medikamente nicht mehr einnehmen können oder auch wollen, ist als dritte Therapiestufe die Gabe von Botulinumtoxin (A) in die Harnblase eine weitere Behandlungsoption. Dabei wird unter Betäubung des unteren Körperabschnittes oder in Vollnarkose im Rahmen einer Blasenspiegelung das hochverdünnte „Botox“ an 10 bis 30 Stellen in der Blase in den Blasenmuskel mit einer feinen ca. 5 mm langen Nadel eingespritzt. Die Wirkung (anhaltende Erschlaffung der überaktiven Blasenmuskulatur) setzt nach etwa einer bis zwei Wochen voll ein und hält erfahrungsgemäß für ca. 9 Monate an.

Die Stärke der Botulinumtoxin-Wirkung ist nicht exakt steuerbar. In sehr seltenen Fällen kann die Blase nur noch erschwert (mit großen Restharnmengen) oder gar nicht mehr entleert werden, sodass alle Patienten, die diese Therapie erhalten, auch gleichzeitig den einfach durchzuführenden Selbstkatheterismus erlernen. Trotz dieser möglichen Unannehmlichkeit wünschen immer mehr Menschen mit schweren Dranginkontinenz-Beschwerden diese sehr wirksame Behandlung. Bei Wiederkehr der Drangbeschwerden kann die „Botox“-Injektion in die Blase beliebig oft fortgeführt werden. Nebenwirkungen auf andere Organe bzw. den gesamten Körper wurden bisher nicht beschrieben.

Operative (chirurgische) Therapie der Dranginkontinenz

Ist diese Behandlung nicht möglich oder nicht erfolgreich, kommen nun in der vierten Therapiestufe operative (chirurgische) Therapiemaßnahmen wie die (sakrale) Neuromodulation in Frage. Nach Einbringen von Testelektroden am Kreuzbein (unterer Rücken in Hüfthöhe) direkt an den (die Blase versorgenden) Nerven wird der Effekt des über diese Elektroden geleiteten geringen Reizstromes über ca. 5 Tage ermittelt. Bessert sich die Dranginkontinenz deutlich, dann kann ein entsprechendes Gerät in der Größe und Form eines Herzschrittmachers im tiefen Rückenbereich in das Unterhautfettgewebe auf Dauer „eingebaut“ (implantiert) werden.

Ist die Blase stark geschädigt und strukturell bereits so verändert, dass alle anderen genannten Behandlungsmaßnahmen versagen bzw. gar nicht angewendet werden können und zudem eine ernsthafte Schädigung der Nieren droht, ist als letzte Option eine Operation der Blase erforderlich.

Zum einen kann eine Erweiterung bzw. Vergrößerung der Blase unter Aufnähen von körpereigenen „ausgeschalteten“ Teilabschnitten überwiegend des Dünndarmes (Blasen-Augmentation) erfolgen. Ist auch dies nicht durchführbar, ist nur noch die Entfernung (oder das „Ausschalten“) der Blase mit Umleitung des Harnflusses in einen künstlichen Blasenausgang in der Regel am rechten Mittelbauch (Urostoma, Konduit), ähnlich einem künstlichen Darmausgang (Anus praeter) möglich.

Fazit zu den Behandlungsoptionen der Dranginkontinenz

Diese letzte Stufe der benannten Behandlungsoptionen ist äußerst selten notwendig. Der Hauptteil der Verfahren erfolgt aussichtsreich im Bereich der ersten drei Therapiestufen, erfordert aber immer eine gute Mitarbeit des Patienten.

Auch Menschen mit einer deutlich verbesserten Symptomatik sollten in regelmäßiger und lebenslanger fachurologischer Mitbehandlung und Kontrolle verbleiben. Eine einmal erlittene schwere Strukturveränderung der Harnblase als Spätfolge einer Blasenüberaktivität (mit folglicher Dranginkontinenz) ist nicht mehr umkehrbar (reversibel), kann aber in den meisten Fällen durch frühes Erkennen und Behandeln verhindert werden.

Autoren:
Prof. Dr. med. habil. Udo Rebmann
Dr. med. Diana Wießner